10.06.2025
Claudia Köhler spricht im Interview über die Bedeutung von Lernbegleitung, das Modell der vollständigen Handlung und warum Ausbildung mehr ist als Wissensvermittlung – nämlich ein gemeinsamer Prozess voller Mut, Vertrauen und echter Begegnung.
Claudia, du bist Expertin im Bereich Lernbegleitung und Ausbildungsdidaktik. Wie bist du zu diesen Themen gekommen?
Das ist eine lange Geschichte (lacht). Ich versuche mich mal kurz zu fassen: Schon im Studium zur Diplom-Sonderpädagogin – ursprünglich wollte ich Sprachheiltherapeutin werden – wurde mir klar, dass Lernen und das Messen von Lernerfolgen keine trivialen Angelegenheiten sind. Ich war diejenige mit den „komischen Fragen“ in den Seminaren: „Ist das wirklich so?“ war quasi mein Credo.
Durch meine Ausbildung zur Supervisorin und später im Coaching vertiefte sich mein Verständnis für Menschen in sozialen Arbeitszusammenhängen. Mit Ende 20 begann meine mittlerweile über 26-jährige Reise beim BNW, in der ich mit unterschiedlichsten Zielgruppen gearbeitet habe. Immer ging es darum, Menschen in ihrem Streben nach Selbstbestimmung zu unterstützen – hinein in Beruf und Arbeit.
Spannend ist: Ich habe früh nach dem Modell der vollständigen Handlung gearbeitet, ohne es zu wissen. Es fühlte sich einfach wie der logischste Weg an, Lernen sinnvoll zu begleiten – auf beiden Seiten der Werkbank! Erst durch ein Buch von Peter Dehnbostel („Lernen im Prozess der Arbeit“) wusste ich: Ich bin Lernprozessbegleiterin durch und durch.
Warum ist das Thema Lernbegleitung in der Ausbildung so wichtig?
Weil in der Ausbildung heute mindestens drei unterschiedliche Erwartungswelten aufeinandertreffen:
Die Nachwuchskräfte mit ihren Wünschen, Ideen und Vorstellungen,
die Ausbildenden mit ganz anderen Erfahrungen und Prägungen,
und die Unternehmen selbst mit wiederum anderen Zielen und Anforderungen.
Diese Konstellation fühlt sich oft an wie ein Spießrutenlauf. Umso wichtiger ist es, dass Unternehmen aktiv werden und Ausbildung als gemeinsame Aufgabe begreifen – vom Azubi bis zur Geschäftsführung. Dort, wo alle Beteiligten Verantwortung übernehmen und voneinander lernen, entstehen großartige Projekte und echte Entwicklung. Dafür braucht es drei Dinge: Mut, Geld und Begleitung – und, ja, einen langen Atem.
Was genau versteht man unter Lernbegleitung – und wie unterscheidet sie sich von klassischem Lehren oder Nachhilfe?
Lernbegleitung bedeutet, den Lernenden auf Augenhöhe zur Seite zu stehen – nicht belehrend, sondern ermutigend. Es geht um das gemeinsame Erforschen von Lernwegen, um Selbststeuerung und um das Verstehen individueller Lernprozesse. Lernbegleitung ist prozess- und beziehungsorientiert, keine Einbahnstraße wie Frontalunterricht oder Nachhilfe.
Häufig fehlt es Azubis nicht an Intelligenz oder Motivation – sondern an Orientierung, Struktur und einem sicheren Raum, in dem Fragen erlaubt sind. Lernbegleitung kann genau hier ansetzen: beim Aufbau von Selbstvertrauen, bei der Entwicklung von Eigenverantwortung und beim Umgang mit Fehlern.
Wie können Ausbilder:innen erste Elemente der Lernbegleitung integrieren, ohne gleich eine Coaching-Ausbildung zu machen?
Schon einfache Fragen können viel bewirken:
„Was brauchst du, um weiterzukommen?“ oder „Was war heute dein größter Lernmoment?“ – das sind starke Impulse. Es geht nicht um große Tools, sondern um eine veränderte Haltung: weg vom Besserwissen, hin zum echten Interesse.
Was steckt hinter dem Modell der vollständigen Handlung – und welche Vorteile bietet es?
Kurz erklären? Schwierig! (lacht) Aber in aller Kürze: Das Modell beschreibt einen Lernprozess, der aus sechs Phasen besteht – von der Informationsgewinnung bis zur Reflexion. Es ist nicht nur in Ausbildungsrahmenplänen vorgesehen, sondern auch hoch wirksam, wenn es gelebt wird.
Für die Azubis bietet es Orientierung und ermöglicht das Erleben von Selbstwirksamkeit. Für Ausbildende schafft es Klarheit im Ablauf und macht Lernprozesse sichtbar. Und das Beste: Es fördert echtes, nachhaltiges Lernen – mit Kopf, Herz und Hand.
Nehmen wir eine Aufgabe wie das Erstellen eines Werkstücks: Statt einfach zu sagen „Mach das mal“, wird der Azubi eingeladen, selbst zu planen, Material zu recherchieren, Umsetzungsschritte zu entwickeln und danach gemeinsam zu reflektieren, was gut lief – und was nicht. Das braucht Zeit, aber es lohnt sich!
Wie passen Lernbegleitung und das Modell der vollständigen Handlung zusammen?
Sie sind untrennbar miteinander verwoben. Wer im Modell der vollständigen Handlung arbeitet, wird automatisch Lernbegleiter:in. Und wer Lernbegleitung ernst nimmt, braucht das Modell als strukturierenden Rahmen. Sie sind keine Gegensätze – sondern wie zwei ineinander verschränkte Spiralen.
Eigenverantwortung ist das Herzstück – sowohl der Lernbegleitung als auch des Modells. Fördern lässt sie sich durch ein offenes Mindset, ehrliche Reflexion und Vertrauen. Wenn Ausbilder:innen und Azubis gemeinsam Verantwortung übernehmen, entstehen echte Lernräume.
Welche einfachen Methoden oder Fragen kannst du Ausbilder:innen empfehlen?
Zwei meiner Favoriten:
Perspektivwechsel: „Würde ich selbst diese Aufgabe spannend finden?“ Wenn nicht – umformulieren!
Lernfrage an sich selbst: „Was kann ich heute von meinen Azubis lernen?“ – Das hält die Beziehung lebendig und öffnet neue Sichtweisen.
Grundsätzlich gilt: Systeme lassen sich nur von dem beeindrucken, wovon sie beeindruckt werden wollen. Neugier, Offenheit und gegenseitiger Respekt sind die besten Werkzeuge.
Ein schönes Bild ist der Tanz: Anfangs ist es etwas holprig, man tritt sich auf die Füße. Dann entschuldigt man sich, schaut sich an – und tanzt weiter. Früher gab es klare Regeln, wer führt. Heute geht es um Gleichwertigkeit und Dynamik. In der modernen Ausbildung darf auch mal „wild durcheinander“ getanzt werden – Hauptsache, es bewegt sich etwas!
Was würdest du Ausbilder:innen mit auf den Weg geben?
Schaut auf eure Azubis, als wären es eure eigenen Kinder oder Enkel – ein Teil eurer Zukunft. Fördert sie mit der gleichen Hingabe und dem gleichen Engagement. Denn genau das ist Ausbildung: Investition in Menschen – und damit in morgen.