17.11.2025

In heterogenen Azubi-Gruppen ist gerechte Leistungsbewertung eine Herausforderung: Unterschiedliche Schulabschlüsse, Sprachkenntnisse, gesundheitliche Einschränkungen oder neurodiverse Ausprägungen treffen auf rechtliche Vorgaben und fachliche Ansprüche. Wie können Ausbilderinnen und Ausbilder fair beurteilen, ohne zu benachteiligen? Dieser Beitrag liefert konkrete Beispiele, zeigt typische Bewertungsfehler auf und gibt praxistaugliche Tipps – von Nachteilsausgleich bis zu sprachsensibler Bewertung. Für mehr Chancengleichheit, Motivation und Vertrauen im Ausbildungsalltag.

Individuell unterstützen, objektiv bewerten: Beispiele aus der Ausbildungspraxis

Beispiel 1:

Ein Auszubildender im Metallbereich hat eine motorische Einschränkung und kann bestimmte Arbeitsschritte nicht in der üblichen Geschwindigkeit ausführen.

Statt so: Anforderungen absenken, indem er weniger Aufgaben bearbeitet oder bestimmte Werkstücke nicht prüft. → Das wäre nicht leistungsgerecht.

Besser so: Anforderungen bleiben bestehen (Maße einhalten, Abläufe korrekt durchführen, Sauberkeit). Er erhält jedoch mehr Zeit und/oder angepasste Werkzeuge.

Beispiel 2:

Eine Auszubildende im kaufmännischen Bereich hat Deutsch als Zweitsprache. Sie versteht die Fachinhalte, hat aber Schwierigkeiten, längere Texte fehlerfrei zu formulieren.

Statt so: Schlechtere Bewertung wegen Grammatik- oder Rechtschreibfehlern, obwohl die Lösung fachlich korrekt ist. 

Besser so: Fachwissen bewerten – etwa ob Kalkulationen stimmen oder Zusammenhänge richtig erklärt werden. Sprachliche Fehler dann berücksichtigen, wenn sie das Verständnis maßgeblich beeinträchtigen.

Tipps für die Bewertung in Ihrer Ausbildungspraxis

Um Auszubildende in einer heterogenen Lerngruppe fair zu bewerten, haben Sie unterschiedliche Möglichkeiten:

1. Bewertungsgrundlage schaffen

  • Kriteriengeleitete Bewertung: Definieren Sie klare Kriterien, bevor Sie bewerten.Welche Kompetenzen und Maßstäbe sind entscheidend? Welche Handlungen müssen Azubis ausführen können?

  • Transparenz: Besprechen Sie die Anforderungen und Erwartungen offen mit Ihren Azubis.

  • Beobachtungen dokumentieren: Machen Sie Notizen. Diese helfen Ihnen, Bewertungen später nachvollziehbar zu begründen.

  • Teilpunkte vergeben: Bewerten Sie einzelne Anforderungen in komplexen Aufgaben separat.

  • Methoden mischen: Nutzen Sie auch Selbst- und Peer-Beurteilungen, Kundenfeedback und standardisierte Verfahren.

  • Hilfsmittel: Nutzen Sie IHK-Muster-Beurteilungsbögen oder eigene Kompetenzraster.

2. Beurteilungsfehler vermeiden

Unbewusste Vorurteile können unsere Entscheidungen verzerren – diese typischen Beurteilungsfehler sollten Sie kennen:

Halo-Effekt (Heiligenschein-Effekt): Ein starker Eindruck überstrahlt andere Bereiche.

  • Beispiel: Ein Auszubildender gilt als sehr fleißig. Deshalb wird seine fachliche Leistung automatisch höher eingeschätzt, auch wenn Fehler in der Ausführung auftreten.

Horn-Effekt (Teufelshörner-Effekt): Eine negative Eigenschaft beeinflusst die Gesamtbewertung.

  • Beispiel: Eine Auszubildende ist häufig unpünktlich und im Unterricht zurückhaltend. Dadurch werden ihre fachlichen Stärken in der Bewertung unterschätzt.

Milde- und Strenge-Fehler: Zu großzügige oder zu harte Bewertung.

  • Beispiel: Ein Ausbilder bewertet alle Azubis grundsätzlich positiv, um die Stimmung nicht zu belasten. Ein anderer verteilt dagegen sehr selten gute Noten.

Kontrastfehler: Leistung wird im Vergleich zu anderen statt nach allgemeinen Standards bewertet.

  • Beispiel: Ein Auszubildender wirkt stark, weil die anderen in der Gruppe schwächeln – auch wenn er die Bewertungskriterien nur teilweise erfüllt.

Status-quo-Bias (Gewohnheitseffekt): Festhalten an bisherigen Bewertungen, auch wenn neue Infos anderes zeigen.

  • Beispiel: Eine Auszubildende wurde im ersten Lehrjahr als „mittelmäßig“ bewertet. Diese Einschätzung wirkt im zweiten Jahr nach, obwohl ihre Leistungen deutlich gestiegen sind.

3. Nachteilsausgleich schaffen

Nachteilsausgleich meint die Anpassung von Prüfungsbedingungen, um die Leistungsfähigkeit von betroffenen Azubis zu fördern. 

  • Möglichkeiten zum Nachteilsausgleich: Verändern Sie die Inhalte nicht: Stellen Sie stattdessen Zeitverlängerung, Pausen, Wörterbücher, technische und sprachliche Hilfen zur Verfügung.

  • Nachteilsausgleich gut vorbereiten: Informieren Sie frühzeitig und holen Sie Atteste und gegebenenfalls Stellungnahmen vom Betrieb oder der Berufsschule ein.

  • Transparenz: Informieren Sie Azubis über ihre Möglichkeiten und unterstützen Sie bei Formalitäten.

  • Hilfsmittel: BIBB-Leitfaden Nachteilsausgleich

4. Vielfalt von Anfang an mitdenken

  • Sprachliche Unterstützung: Setzen Sie sprachsensible Methoden ein, um das Verständnis von Aufgaben und Inhalten zu sichern. Hinweis: Sprachdefizite allein sind aktuell kein Grund für einen Nachteilsausgleich in IHK-Prüfungen.

  • Methodenvielfalt nutzen: Setzen Sie Referate, Präsentationen, Skizzen, praktische Vorführungen oder Gruppenarbeiten ein und erwägen Sie alternative Prüfungsformate.

  • Neurodiversität berücksichtigen: Bieten Sie reizarme Räume und alternative Darstellungsformen an und zerlegen Sie Aufgaben in Teilschritte.

  • Motorische Einschränkungen ausgleichen: Stellen Sie, wenn möglich, ergonomische Werkzeuge, höhenverstellbare Tische und spezielle Vorrichtungen bereit.

  • Psychische Gesundheit ernst nehmen: Erhöhen Sie die Planbarkeit, indem Sie Prüfungen frühzeitig ankündigen und eine strukturierte Vorbereitung anbieten.

Fazit: Vielfalt als Chance für faire Leistungsbewertung

Wie Sie sehen, können Sie auch mit kleineren Maßnahmen zu einer faireren Leistungsbewertung kommen: Indem Sie Unterschiede berücksichtigen, Unterstützung anbieten und Leistungen nachvollziehbar beurteilen. Damit leisten Ausbilderinnen und Ausbilder einen wichtigen Beitrag zu Chancengleichheit, Motivation und Vertrauen in der Ausbildungsgruppe.

Veranstaltungen und Beiträge zum Thema

Weiterführende Links:

Informationen zu Nachteilsausgleich der IHK Hamburg
Informationen zur Rechtlage bei Nachteilsausgleich der IHK Düsseldorf
Muster-Beurteilungsbogen der IHK

*je nach Einzelfall bei den zuständigen Institutionen im jeweiligen Bundesland erfragen.


Literatur

Vollmer, Kirsten & Frohnenberg, Claudia, 2014, Nachteilsausgleich für behinderte Auszubildende: Handbuch für die Ausbildungs- und Prüfungspraxis. Bonn

Ruschel, Adalbert, 2015, Beurteilung von Auszubildenden. Online: https://www.adalbert-ruschel.de/downloades/beurteilung%20von%20auszubildenden.pdf (letzter Zugriff: 15.10.2025)