NETZWERK Q 4.0: Mario, Du bist Ausbilder in einer Justizvollzugsanstalt und bildest junge Strafgefangene zu „Fachlageristen“ aus. Was unterscheidet Deine Rolle als Ausbilder hier im Gegensatz zu früheren Ausbildungstätigkeiten?
Vorausschickend würde ich sagen, dass die zweijährige Ausbildung zum Fachlageristen in einer Strafvollzugsanstalt sowohl die Azubis als auch die Ausbilder:innen vor besondere Herausforderungen stellt. Da sind zunächst die individuellen Biographien: Die Mehrzahl dieser jungen Menschen verfügt nur über eine geringe Schulbildung. Zudem bestand vor ihrer Inhaftierung in ihrem Leben und Tagesablauf häufig wenig bis keine Struktur. Da bist Du als Ausbilder in Deiner Vorbildfunktion ganz anders gefragt! Denn neben den beruflichen und fachlichen Fähigkeiten müssen auch soziale Kompetenzen authentisch vermittelt werden, die für viele „draußen“ im sozialen und respektvollen Miteinander selbstverständlich sind.
NETZWERK Q 4.0: Du hast doch sicherlich auch mit ganz unterschiedlichen Charakteren und Mentalitäten zu tun. Da musst Du als Ausbilder selbst bestimmt eine Menge Berufs- und Lebenserfahrung im Gepäck haben.
Das stimmt. Natürlich ist die Gruppe insgesamt sehr heterogen. Da braucht es schon viel Fingerspitzengefühl. Und oft ist zwischen Nähe und Distanz zum Inhaftierten nur ein schmaler Grat, der einen ganz schön herausfordert. Nehmen wir montags als Beispiel. Als „Warm-up“ in die Woche tauschen sich Azubis und Ausbilder:innen normalerweise aus, wer was am Wochenende so gemacht oder erlebt hat. Das sind Fragestellungen, die in einer Strafanstalt nicht aufkommen. Dafür erzählen mir Strafgefangene manchmal ihre persönliche Geschichte, warum sie hier sind. Dieses Wissen darf dann wiederum keinen Einfluss auf meine Arbeit als Ausbilder haben. Ich glaube, ohne eine in sich gefestigte Persönlichkeit und die permanente Justierung der eigenen Grenzen geht es in diesem Job nicht.
NETZWERK Q 4.0: Apropos heterogen: die Haftzeit ist doch sicherlich auch sehr unterschiedlich. Reicht die Zeit da denn immer, um die Ausbildung abzuschließen?
Nein. In den seltensten Fällen kann die vollständige Ausbildung in der Strafanstalt stattfinden. Daher haben Ausbilder:innen und die Industrie und Handelskammern auch die Ausbildung zum Fachlagerist / Fachkraft für Lagerlogistik als Teilmodulare Ausbildung konzipiert. Die Ausbildungsinhalte sind hier in fünf Teilqualifikationen aufgeteilt, zu denen dann immer eine Kompetenzfeststellung durch die IHK in Form einer schriftlichen und praktischen Überprüfung gehört. Das ermöglicht den Azubis nach Beendigung der Haftzeit auch „in Freiheit“ die Ausbildung in einem Ausbildungsbetrieb oder bei einem Überbetrieblichen Bildungsträger fortzusetzen und hoffentlich erfolgreich zu beenden. Und uns als Ausbilder kommt hier eine Doppelfunktion zu: wir vermitteln neben den betrieblichen auch die berufsschulischen Inhalte. Daher kann bei jedem praktischen Arbeitsschritt das theoretische Wissen verknüpft werden. Das ist ein großer Vorteil.
NETZWERK Q 4.0: Helft Ihr dann auch bei der Vermittlung von Ausbildungsbetrieben, damit im Anschluss ein möglichst nahtloser Übergang erfolgen kann?
Ja, das machen wir. Das wäre ja sonst fatal, wenn die Jugendlichen in alte Strukturen zurückfallen und das Programm umsonst wäre. Neben der weiterführenden sozialpädagogischen und psychologischen Betreuung zapfen wir als Ausbilder:innen vor allem unsere persönlichen Netzwerke zur Vermittlung an. Stell Dir mal die Erfolgsaussichten vor, wenn die Jugendlichen den ganz regulären Bewerbungsprozess durchlaufen müssten! So sprechen wir direkt berufliche Kontakte an und versuchen gezielt und passgenau zu vermitteln. Wir wollen doch wirklich nachhaltig den jungen Menschen auf die Beine helfen. Darum geht’s doch.
NETZWERK Q 4.0: Nochmal zurück zum Ausbildungsalltag. Den stelle ich mir auch ganz anders vor. Wo schließt in einer herkömmlichen Ausbildung schon jemand hinter einem die Tür zu?
Da sprichst Du natürlich einen wichtigen Punkt an. Die Ausbildungsumgebung spielt hier eine gewichtige Rolle. Vor und hinter jedem Gefangenen muss jede Tür auf und zugeschlossen werden. Jeder Arbeitsschritt wird vom Ausbilder und/oder einer Vollzugsbeamt:in begleitet. Was nach einem eher behäbigen logistischen Ablauf klingt, ist es auch! Aber für die inhaftierten Auszubildenden liegt genau hierin ein immenser Vorteil.
NETZWERK Q 4.0: Worin liegt dieser?
Dieser streng geregelte Ablauf nimmt den Azubis den zeitlichen Druck, der in einem wirtschaftlichen Betrieb Einfluss auf die Auszubildenden und die Ausbilder:innen hat. Schließlich können keine Überstunden gemacht werden, wenn der Schließdienst kommt. Vorgegeben sind auch die Zeiten für Pausen, Freistunden sowie die Ein- und Aufschlusszeiten. Auch die räumliche Beweglichkeit ist bei uns natürlich „von Hause aus“ stark reglementiert: Es gibt Lagerbereiche, in denen Güter ein- und ausgelagert werden, die ebenfalls verschlossen sind. Da dürfen sich die Inhaftierten nicht eigenständig bewegen und alleine arbeiten. Klingt jetzt erstmal sehr einschränkend; schafft aber auch eine ganz klare Struktur, die für unsere Azubis notwendig ist.
NETZWERK Q 4.0: Mario, das Thema Digitalisierung ist in aller Munde. Bei Euch auch?
Ja, die Digitalisierung ist auch in der Ausbildung in den Strafanstalten ein wichtiges Thema. Das aber die Anstalt vor immense Herausforderung stellt! Zum einen, um die Auszubildenden mit heute üblicher Technik wie Scannern, Warenwirtschaftssysteme, etc. vertraut zu machen. Und zugleich aber auch, den besonderen Sicherheitsanforderungen der Jugendstrafanstalt gerecht zu werden.
NETZWERK Q 4.0: Da nutzt Ihr doch sicherlich auch häufiger digitale Lernmedien, oder? Bei Euch können ja schließlich nicht so viele unterschiedliche Lehrer „vor Ort“ sein.
Ja, das sollte man denken: weniger unterschiedliche Lehrer, mehr digitale Lernmedien. Dem ist allerdings nicht so. Denn hier muss ein besonders großer Spagat zwischen den Sicherheitsanforderungen und den digitalen Lernmedien gemacht werden. Ein freier Zugriff auf Lernmedien im „www“ ist bei uns nicht möglich. Also wie an Berufsschulen oder auch in den Ausbildungsbetrieben kann in der Anstalt nicht auf alle frei verfügbaren Lernmedien online zugegriffen werden. Ein großer Teil digitaler Lernmedien wird offline eingesetzt und eine digitale Interaktion der Auszubildenden ist auch nur eingeschränkt möglich! Eingeschränkt, da es besondere, speziell für die Ausbildung im Strafvollzug, geschaffene Lernplattformen gibt. Du kannst Dir sicherlich vorstellen, welche Rolle die Themen Datenschutz und Datensicherheit haben!
NETZWERK Q 4.0: Oh ja. Aber ich denke auch, welche Chancen Euch zukünftig beim Lernen und Erleben die neuen Technologien wie VR-Brillen, Augmented Reality und und und bieten könnten. Gerade, wo wir vorhin das Thema der räumlichen und zeitlichen Einschränkungen besprochen haben. Mario, würdest Du abschließend sagen, dass die Ausbildung in der JVA einer herkömmlichen Ausbildung, wie wir sie kennen, alles in allem in nichts nachsteht?
Absolut! Ich würde sogar noch weitergehen: Der intensive praktische Ausbildungsteil und die direkte Verknüpfung von Theorie und Praxis stellt sogar einen Vorteil dar. Aber abgesehen von diesen Besonderheiten unterscheiden sich die Ausbildung und die Auszubildenden im Strafvollzug im Wesentlichen nicht von anderen Auszubildenden und Ausbildungsbetrieben und Einrichtungen: auch wir haben hier zusammen oft Spaß! Und aktuell kämpfen wir genauso mit den zurzeit überall greifenden Lieferschwierigkeiten und allen daraus resultierenden Herausforderungen.
NETZWERK Q 4.0: Mario, danke, dass Du uns einen Einblick gegeben hast und Danke für das interessante Gespräch.
Danke Dir auch, Susanne.